Die Ausstellung LOAM – Re: Tonindustrie Scheibbs wirft im Rahmen des Viertelfestivals 2021 ein Schlaglicht auf die Sammlung des Keramikmuseums Scheibbs. Zeitgenössische Kunst tritt in Dialog zu den Ausstellungsstücken und deren Geschichte
Auf Scheibbserinnen und Scheibbser musste damals in den 1920er-Jahren das Grundstück des Ludwig Weinbrenner exotisch gewirkt haben. Der Sohn eines Wiener Großgärtners, erwarb nach dem Ersten Weltkrieg den Gutshof Scheibbsbachhof nahe dem Stadtzentrum, führte dort eine kleine Landwirtschaft, züchtete Kakteen und Orchideen. Zwischen den Glashäusern mit seltenen Pflanzen aus fernen Ländern stand ein Japanisches Teehaus. Weinbrenner war, bevor es ihn ins Mostviertel verschlug, weit herumgekommen. Als Wiener Stadtgärtner wurde er eingeladen, an einer kaiserlich-königlichen Exkursion nach Asien teilzunehmen. Er bereiste Japan, China und Sumatra. Begeistert von dieser andersartigen Kultur, brachte er zahlreiche Souvenirs mit nachhause.
Es war eine anmutige Welt, die er sich in Scheibbs einrichtete. Gäste verwöhnte er mit seinen Kochkünsten und französischem Wein, der in Fässern vor seinem Haus lagerte. Er hielt Schweine, Hühner und stellte Marmelade her. Wiener Hotels waren Abnehmer seiner Produkte.
WELTGEWANDT
Und dann war da dieser Lehmklumpen, den Weinbrenner laut Überlieferung eines Tages auf seinem Grundstück aus ausgehobener Erde herausnahm, in seinen Händen knetete und meinte, dass man daraus etwas machen könne. Die Episode bietet den Stoff für eine große Erzählung, denn Lehm oder „Loam“ wie es im Mostviertler Volksmund auch heißt ist ein Material, in dem die ganze Welt schlummert. Weinbrenner ging auf Tuchfühlung mit dieser biblischen Urmaterie. Das Einwirken der Hände ist eine zutiefst sinnliche Handlung, die dem Material Lehm wiederum Sinn verleiht. Einmal in Form gebracht, weiß sich der objektgewordene Rohstoff zu artikulieren. Noch vor der Geschichtsschreibung sind es Keramiken, die uns von früher erzählen. Kultur ist eine Sprache, eine Technik der Verständigung, die Identität schafft und Menschen zu Regionen und Kulturkreisen verbindet. Kultur kann aber auch trennen, nämlich dann, wenn das Eigene über das Andere gestellt wird. Begriffe wie Nation und Heimat wurden in diesem Sinn immer wieder missbräuchlich eingesetzt. Die Sprache erweist sich hier als äußerst sensibles Instrument, das je nach Gesinnung sehr eigenwillige Auslegungen zulässt und daher immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss. Ludwig Weinbrenner war in einen monarchistischen Vielvölkerstaat hineingeboren und verließ Anfang der 1930er-Jahre einen durch den Ersten Weltkrieg zerfahrenen Kontinent, in dem sich politisch eine dunkle Wolke zusammenbraute. Stefan Zweig, ebenso wie Weinbrenner Jahrgang 1881, beschrieb als Chronist diesen epochalen Wandel, den seine Generation durchmachte. Durch die aufkeimenden Nationalismen sah er „die Blüte der europäischen Kultur vergiftet“ und blickte mit Wehmut auf jene Zeit zurück, in der die Länder offen standen und er ohne Schranken reisen konnte.
Zweig verstand sich als Europäer und Kosmopolit. Diese Weltsicht teilte Ludwig Weinbrenner mit ihm. Er war in Scheibbs ansässig, pflegte aber einen Lebensstil, dessen Geste über sein unmittelbares Umfeld hinausdeutete. Der Ausstellungstitel „Loam“ verweist auf diese Verbindung von Regionalem mit Globalem, denn der Begriff ist nicht nur im niederösterreichischen Mostviertel geläufig, sondern findet sich in gleicher Schreibweise mit exakt der gleichen Bedeutung im Englischen wieder, jener Sprache mit der sich heute die ganze Welt verständigt, sei es in Wirtschaft, Forschung oder auch Kultur. Dass die globalen Verflechtungen nicht immer dem Ideal der Völkerverständigung dienen, sondern Hegemonien untermauern und Ungleichheit schaffen, ist ein Makel, über den die Profiteure bis heute allzu gerne hinwegblickten. Zunehmende Migrationsbewegungen und Umweltkatastrophen zeigen allerdings, dass die einst moralische Systemfrage immer stärker zu einer geopolitischen Problemstellung wird. Kräfteverhältnisse sind in Bewegung geraten, westliche Industrieländer müssen umdenken.
DAS SCHÖNE LEBEN
„Think global, act local“, lautet schon seit Jahrzehnten ein geflügeltes Credo der Globalisierungskritik, das sich über Landesgrenzen hinweg in der Weltsprache durchgesetzt hat. Im Kleinen handeln, aber die Welt dabei mitdenken, ist eine Idee, die dem schottischen Ökologen und Soziologen Patrick Geddes zugeschrieben wird. Er gilt als Pionier der Stadtplanung und führte den Begriff „Region“ als Richtgröße im Feld der Architektur ein. Geddes legte in seinen Überlegungen den Fokus auf den Menschen in seiner Lebensumwelt, die sich um 1900, geprägt von der Industrialisierung, stark verändert hatte. Soziale Prozesse und das Befinden jedes und jeder Einzelnen, davon war er überzeugt, seien stark von räumlichen Strukturen abhängig. Es kann kein Zufall sein, dass sich gerade in Großbritannien, dem Land, in dem das dampfende Räderwerk der Industrie seinen Anfang nahm, mit „Arts and Craft“ auch eine erste Gegenbewegung herausbildete. Vor allem Künstler und Architekten formulierten schon im 19. Jahrhunderts ihr Bedürfnis nach einer Rückbesinnung auf die Qualitäten des Handwerks, weil sie maschinell erzeugte Produkte als seelenlos empfanden. „Arts and Craft“ wurde zu einer Lebenseinstellung, die über das Produktdesign hinausging und die Verbindung zwischen Kunst, Gesellschaft und Arbeit suchte. Auch in den USA wurden die Ideen bald aufgegriffen. In Frankreich entstand Art Nouveau, in Deutschland der Deutsche Werkbund und später auch Bauhaus. In Wien wurde 1867 die Kunstgewerbeschule gegründet, aus deren Dunstkreis sich Jahrzehnte später 1903 die Wiener Werkstätte formierte. Die Gründer Josef Hoffmann, Koloman Moser und der Unternehmer Fritz Waerndorfer verfolgten die Idee eines Gesamtkunstwerks. Alles sollte neugestaltet werden, das Schöne, der gute Geschmack, alle Lebensbereiche durchdringen. In der Neustiftgasse in Wien entstand ein sehr offenes Experimentierlabor für alle möglichen kunsthandwerklichen Disziplinen: von Möbel über Stoffe, Mode, Metallverarbeitung und Glas bis hin eben zu Kunstkeramik. Diese erlebte vor allem unter Michael Powolny einen Aufschwung, seitdem er an der Kunstgewerbeschule unterrichtete. Schülerinnen und Schüler wechselten von der Ausbildung direkt in die Produktion der Wiener Werkstätte und in andere Keramikwerkstätten.
Auch Ludwig Weinbrenner klopfte bei Powolny an, um junge Fachkräfte für die neu gegründete Tonindustrie Scheibbs zu gewinnen, darunter auch viele Frauen wie Gudrun Baudisch oder Helene Dörr und Hilde Heger, die den Stil der Scheibbser Keramik Mitte der 1920er-Jahre prägten. Walter Bosse kam ebenso nach Scheibbs wie Josef Hoffmann, von dem ein Entwurf für eine Vase stammt. Die Kontakte der Tonindustrie Scheibbs zur Wiener Werkstätte waren fortan so eng, dass sogar eine Reihe von Objekten mit dem Scheibbser Stempel und dem der Wiener Werkstätte gemarkt sind. Über das Netzwerk nach Wien erfolgte auch der Vertrieb der in Scheibbs produzierten Ware. 1924 kaufte Ludwig Weinbrenner stückweise das Areal der insolventen Weichguss- und Achsenfabrik Gaißmayer & Schürhagel in Heuberg bei Scheibbs und übernahm viele der arbeitslosen Eisenarbeiter. Insgesamt waren es fast 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für die Tonindustrie Scheibbs tätig waren.
Weinbrenner zielte mit seiner Produktion auf den internationalen Markt ab. Ein Großteil der Keramiken wurde in die USA exportiert, von wo ab Mitte der 1990er-Jahre Hans Hagen Hottenroth gemeinsam mit seiner Frau Johanna Hottenroth viele Objekte für ihre Sammlung wieder zurückholte. Über viele Jahre folgte das Ehepaar jeder Spur und setzten ein Puzzleteil neben das andere, sodass diese Welt von Gestern für spätere Generationen bald wieder greifbar werden sollte. „Wie von einem anderen Stern“, beschrieb Hans Hagen Hottenroth begeistert sein Empfinden gegenüber dieser expressiven Formensprache. Bis heute haben die in frech aufgetragenen Glasuren auf Übertöpfe, Kerzenleuchter, Schüssel, Vasen und figurale Arbeiten an Strahlkraft nichts eingebüßt. In den Keramiken, die im Keramikmuseum Scheibbs gezeigt werden, steckt das Regionale und das Weltumspannende. Die Ausstellung LOAM möchte zu dieser Kraft, die den Objekten innewohnt in Dialog treten und die Anmut aufleben lassen, die Ludwig Weinbrenner hier an diesem Ort einst pflegte.
Uli Aigner schuf mit ihren Porzellanarbeiten einen neuen Knotenpunkt des globalen Netzwerkes ihrer ONE-MILLION-Serie. Für das Museum erzeugte sie „Echos“ auf drei Formen aus der Sammlung. Darüber hinaus fand ein von ihr geschaffenes monumentales Porzellangefäß mit mehr als zwei Meter Höhe den Weg von China über das Wiener Belvedere zum nunmehr permanenten Standort im Foyer des Landesklinikums Scheibbs. Clemens Auer entwickelte mit seiner Neuinterpretation eines Mostplutzers und eines Mostkrugs mondäne Formen für zwei sehr regionalspezifische Gefäße. Christiana Lugbauer widmet sich mit experimentellen Glasuren der Kraftvollen Wechselbeziehung zwischen Form und Oberfläche. Kristin Weissenberger umkreist mittels Abbild, Abdruck und Nachahmung die Historie der Tonindustrie. Yuki Higashino praktiziert die Weltläufigkeit in Zusammenarbeit mit seinem Vater Avi Beraha, der in seiner Keramikproduktion in Japan zwei Objekte für die Ausstellung ausführte. Und Ines Hochgerner denkt mit druckgrafischen Mitteln über unterschiedliche Momente in der Herstellung, der Verwendung, des Sammelns, Ordnens und des Zeigens von Keramik nach.
Der Text wurde als Vorwort zur Ausstellungsbroschüre geschrieben.
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